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03.07.2024, 23:07 Uhr

Sinn und Unsinn

  • 22.12.2003
  • Allgemein

Hans-Werner Sinns Wachstumsthesen - zielgenaues Rettungskonzept oder Schützenhilfe für Unternehmer?

Der Münchner IFO-Chef Professor Hans-Werner Sinn hat mit seinem Buch "Ist Deutschland noch zu retten?" einen Bestseller gelandet. Einen großen Anteil der gewiss erfreulich üppigen Tantiemen dürften Siemens-Manager über den Ladentisch reichen, erklärt doch Heinrich von Pierer persönlich das Werk im Umschlagtext an erster Stelle zur "Pflichtlektüre" und wird nicht müde, die darin enthaltenen Thesen zur Rettung des Standorts Deutschland seinerseits zu verbreiten.

Sinns Thesen sind radikal und gewollt provokant, was sie schon aus politischer und ethischer Sicht zum kontroversen Objekt macht; will man sie jedoch ernsthaft diskutieren, braucht es eine kompetente wirtschaftswissenschaftliche Bewertung, die sich nicht selbst durch den Verdacht entkräftet, interessengeleitet zu sein.

Professor Rudolf Hickel, Direktor des IAW <link http: www.iaw.uni-bremen.de link>(Institut Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen) hat, basierend auf Sinns auch bei <link http: news.focus.msn.de g ge link>Focus online veröffentlichten Thesen, die sechs nachfolgenden Antithesen aufgestellt, die, getreu dem Focus-Motto "Fakten, Fakten, Fakten!", fundierte Gegenargumente aufzeigen - und, man verzeihe das eigentlich schon allzu naheliegende Wortspiel, den Unsinn in Sinns Äußerungen bloßlegen.

Dem Siemens Dialog stellt Prof. Hickel freundlicherweise seine Antithesen zur Verfügung:

Sinns Thesen machen nicht viel Sinn

 

Kritik der sechs Wachstums-Thesen vom Ifo-Chef Sinn

Antithese 1: Deutschland ist Exportweltmeister

Die Sinn-These, Deutschland sei wegen der hohen Lohnstückkosten international nicht wettbewerbsfähig, stellt die ökonomischen Verhältnisse auf den Kopf. Die Lohnstückkosten – also die gesamten Arbeitskosten je Arbeitnehmer im Verhältnis zur Produktivität – wachsen seit 2000 im Durchschnitt unter einem Prozent. Im kommenden Jahr werden die Lohnstückkosten leicht zurückgehen. Da seit Jahren dieser Indikator in den anderen EU-Ländern deutlich stärker als in Deutschland zunimmt, ist die deutsche Konkurrenzfähigkeit deutlich gestiegen. Dies gilt seit Ende der neunziger Jahre auch im Vergleich zu den USA. Deshalb ist Deutschland Exportweltmeister. Dabei konzentrieren sich die Exporterfolge derzeit auch auf die Wachstumsregionen außerhalb Europas. Trotz Aufwertung des Euro gegenüber dem US $, Deutschland hat in diesem Jahr laut Bericht der Deutschen Bundesbank den Anteil am Welthandel auf 10% wieder ausweiten können.

 

Antithese 2: Beschäftigungsabbau nicht wegen zu hoher Löhne, sondern fehlender Binnennachfrage

Der rapide Beschäftigungsabbau in den letzten Jahren geht nicht auf zu hohe Löhne zurück. Im Gegenteil, unter dem massiven Druck des drohenden Arbeitsplatzverlustes sind die Löhne geringer als die Produktivität zusammen mit der Inflationsrate gewachsen. Bedauerlicherweise ist die Lohnpolitik den Empfehlungen des Ifo-Chefs gefolgt. Aber die Belohnung für eine moderate Lohnpolitik durch Investitionen in Beschäftigung blieb aus. Ursache der auch im kommenden Jahr schwachen Unternehmensinvestitionen sind die niedrige Kapazitätsauslastung und unzureichende Nachfrage. Gebraucht wird eine Lohnpolitik zur Stärkung der Binnennachfrage. Was nützt den Unternehmen eine erneute Runde der Lohnzurückhaltung, wenn mangels Nachfrage die Kostenentlastung nicht realisiert werden kann? Der Ifo-Chef leidet übrigens erst in jüngster Zeit unter einer Sehschwäche auf dem Auge der Nachfrage.

 

Antithese 3: Existenzsichernde Sozialhilfe geboten

Der Ifo-Chef behauptet, die Sozialhilfe sei „viel zu hoch“. Diese Parole steht heute auch im Zentrum der Stammtischökonomie. Sie basiert auf der Behauptung, es lohne sich bei dieser üppigen Stütze gegenüber den viel zu niedrigen Löhnen nicht, Erwerbsarbeit anzunehmen. Dabei lässt sich zeigen, dass der Abstand zwischen Stütze und Löhnen in Normalfall keineswegs zu gering ist. Auch der Experte Sinn verallgemeinert den Vergleich zwischen sozialhifebeziehenden Familien mit zwei oder mehr Kindern gegenüber der Entlohnung aus einem regulären Arbeitsverhältnis. Der Großteil der ca. 1,2 Millionen Sozialhilfeempfänger sind jedoch Singles mit und ohne Kinder. Bei mehr als 600 000 beträgt die Stütze rund 375 € netto im Monat. Die durch die Verfassung gewollte Zielgröße bei der Sozialhilfe ist die Sicherung des Existenzminimums, das bei vielen Sozialhilfebeziehern kaum noch erreicht wird. Wenn allerdings die Bezahlung von Jobs im Niedriglohnsektor in diese Nähe rutscht, dann versagt der Arbeitsmarkt.

 

Antithese 4: Zuwanderung gestalten

Die Zuwanderung vor allem durch die EU-Osterweiterung wird zunehmen. Viele Studien zeigen jedoch, dass es keinen Grund zur Panikmache gibt. Deutschland ist heute schon in vielen Bereichen der Arbeitsmärkte auf Zuwanderung angewiesen. Sicherlich ist die deutsche Sozialhilfe heute höher als die Nettolöhne von Industriearbeitern in den osteuropäischen Beitrittsländern. Es wäre jedoch sinn-los, deshalb die Sozialhilfe und Löhne an den dortigen Verhältnissen auszurichten. Die Sozialhilfe muss sich am für Deutschland definierten Existenzminimum ausrichten. Übrigens, mit dem ökonomischen Aufschwung in den osteuropäischen Ländern werden dort die Löhne und Gehälter auch durch den Einsatz von Gewerkschaften steigen.

 

Antithese 5: Besteuerung nach der ökonomischen Leistungsfähigkeit

Die Sinnschen Vorschläge zur radikal vereinfachten Steuereinmaleins klingen im ersten Moment überzeugend. Vernachlässigt werden jedoch drei Ziele: Erstens müssen die gesamten Steuereinnahmen ausreichen, um die wichtigen öffentlichen Aufgaben zu finanzieren. Heute liegt der Anteil der Steuereinnahmen am Bruttoinlandsprodukt – die Steuerquote – bei knapp 22%. Im internationalen Vergleich gibt es Spielraum, mehr Steuereinnahmen vor allem für öffentliche Investitionen bei den Gemeinden einzusetzen. Zweitens muss die Steuerlast nach der ökonomischen Leistungsfähigkeit verteilt werden. Drittens gibt es gut begründete Steuerausnahmen. Schließlich argumentiert Sinn ja entschieden für die Beibehaltung der Entfernungspauschale.

 

Antithese 6: Mehr Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Der Ifo-Chefökonom will dem tendenziellen Fall der Geburtenrate mit einem Obolus der Kinderlosen bei der Finanzierung der Rentenversicherung zu Leibe rücken. Mit diesem Vorschlag werden die realen Belastungen von Familien mit Kindern ignoriert. Im Mittelpunkt muss eine Politik der Vereinbarkeit von Beruf und Familie gerückt werden. Dazu gehören eine bessere Ausstattung mit Kindergärten und betreuenden Ganztagsschulen. Endlich müssen die Lebensbedingungen für einkommensschwache Alleinerziehende verbessert werden. All dies kostet Geld und muss über Steuereinnahmen finanziert werden.

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