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03.07.2024, 19:07 Uhr

Drehscheibe zum Billiglohn

  • 04.06.2003
  • Konzern

Die Siemens-Tochter PSE als Outsourcing-Portal

Drehscheibe zum Billiglohn

Die Zeiten, in denen Forschung und Entwicklung als Aufgabe für hochqualifizierte Spezialisten im Lande blieben, neigen sich bekanntlich ihrem Ende zu. Vor allem Indien und Länder des ehemaligen Ostblocks bieten westlichen HighTech-Firmen vergleichbares Potenzial bei niedrigeren Kosten. Siemens macht bei diesem Trend keine Ausnahme: Unter anderem über die Tochter Program and System Engineering (PSE) und wiederum über deren Töchter in Osteuropa und der Türkei fließen Software-Projekte aus mitteleuropäischen Standorten zu billigeren Auftragnehmern.

 

Der Hintergrund dafür ist schnell ermittelt. Die PSE rechnet von Fall zu Fall mit verschiedenen Stundensätzen, unter anderem basierend auf denen der am Projekt beteiligten Länder. Vor allem, wenn die eigentliche PSE Österreich mit ihrem noch vergleichsweise hohen Satz Töchter in Rumänien, Ungarn usw. hinzuzieht, sinkt der „gemischte“ Satz und damit letztlich die Rechnung erheblich, selbst wenn die Arbeit an sich wiederum in Wien ausgeführt wird. Um dieses Ziel zu erreichen, beschränkt sich Siemens nicht darauf, Projekte an PSE weiterzugeben und der Tochter die eigenständige Ausführung zu überlassen, sondern mischt sich massiv in die entsprechenden Prozesse ein.

 

Insider bei PSE wissen, wie diese Umleitung in der Praxis funktioniert: Theoretisch hat die Siemens-Zentrale eigentlich keinen direkten Einfluss auf den Umfang der Weiter-Verlagerung zu PSE-Töchtern. Daher versucht sie, die Drehscheiben-Funktion der PSE zu verstärken, indem sie damit droht, eigene Software-Entwicklungsstandorte etwa in Osteuropa (geplant ist zum Beispiel Polen) aufzubauen - und drückt so den Misch-Stundensatz von PSE. Erst vor kurzem sah sich die PSE veranlasst, ICN statt ihres eigenen (höheren) Mischsatzes unmittelbar den (billigeren) Stundensatz ihrer rumänischen Tochter zu verrechnen, um der Drohung von Siemens zu begegnen, einen eigenen ICN-Standort in Rumänien aufzubauen. Das Blockieren des PSE-Satzes durch die Siemens-Zentrale sowie die verstärkte Beauftragung der ICN-Töchter in Portugal und Indien (Bangalore) verstärken diese Funktion. PSE verlagert in der Folge gezwungenermaßen Projekte zu billigeren Osttöchtern, anstatt sie im eigenen „Hochlohnstandort“ Österreich abzuwickeln. Im nächstem Geschäftsjahr beispielsweise ist so nicht mehr die PSE in Wien mit Teilen der NetManager-Entwicklung betraut, sondern die komplette Weiter-Entwicklung zur ICN-Tochter nach Indien verlagert.

 

Auch in Deutschland trägt diese Taktik letztlich konkret zum Stellenabbau bei, so die Einschätzung von ICN-Betriebsräten. Wichtige Aufträge fließen auf dem beschriebenen Weg ab, etwa die Entwicklung von Administrationstools in den Projekten „HOT“ (Hicom One Tool) und „PC-Dacon“ aus Berlin nach Rumänien und Ungarn, oder rund 50 Prozent der Betriebstechnik aus dem Münchner Bereich „HiPath Systemsoftware“ nach Ankara. Allein von ICM N PG GSM wanderten so in den letzten fünf Jahren im Themenbereich „ATM-Anschlusstechnik“ rund 25 Mannjahre nach Zagreb.

 

Die Betriebsräte betroffener Standorte gehen davon aus, dass weitere Verlagerungen folgen werden - während gleichzeitig gerade bei ICN rigoroser Stellenabbau mit der Begründung durchgedrückt wird, es gebe einfach nicht genügend zu tun.

 

(hr)