Siemens Dialog
https://www.dialog-igmetall.de/nachrichten/era-oder-der-kleine-unterschied
03.07.2024, 17:07 Uhr

ERA oder der kleine Unterschied

  • 05.04.2007
  • Allgemein

Typisch weiblich, typisch männlich – solche Einordnungen gibt es auch bei der Bezahlung. Das Thema Entgeltstrukturen und Geschlechterstereotypen stand dieses Jahr auf der Agenda des Siemens-Betriebsrätinnenseminars.

17 Teilnehmerinnen aus fast ebenso vielen Standorten waren vom 26.-28.3.2007 zum jährlichen Siemens-Betriebsrätinnen-Treffen der IG-Metall-Kolleginnen zum Tagungsort Hessenmühle in der Nähe von Fulda gekommen. Diskutiert wurde über verschiedenste Themen, doch der große Schwerpunkt lag im „ERA-Jahr“ darauf, was im Hinblick auf Gleichstellung und Bezahlung von Frauen noch zu tun ist. „Geschlechterstereotypen am Beispiel von Entgeltstrukturen – Auswirkung auf die Arbeit der betrieblichen Interessenvertretung“ hieß das Seminarthema.

Im Zeichen der ERA-Einführung stand das Seminar schon deshalb, weil weniger Betriebsrätinnen teilnehmen konnten als in den Vorjahren – und das aus dem einfachen Grund, dass die ERA-Einführung die meisten Betriebsratsgremien so in Beschlag nimmt. Dieses Mal waren es deutlich weniger Kolleginnen, die sich irgendwie eine Auszeit aus dem täglichen Geschäft verschaffen konnten. Langjährige Mitglieder des Netzwerkes konnten nicht kommen – sie waren immer noch eingedeckt mit den Folgen der Einführung von ERA, zähe Verhandlungen mit der Geschäftsleitung, Beratung der Kolleginnen und Kollegen, Einsprüche und Schlichtungen binden schon seit einigen Monaten alle Kräfte. Nicht nur, dass Siemens fast durchgängig ERA nutzen wollte, um flächendeckend die Beschäftigten abzugruppieren, häufig genug wurde mit unfairen und - wie die Betriebsrätinnen meinen - „teilweise richtig fiesen“ Methoden versucht, zum einen das Ergebnis zu drücken, zum anderen auch gleich die Arbeitnehmervertreter dafür verantwortlich zu machen.

Geringschätzung bei Eingruppierung

Insbesondere bei den typischen Frauenarbeitsplätzen wurde deutlich, mit welcher Geringschätzung diese bewertet werden. Die Erfahrungen bei der Eingruppierung der Sekretärinnen/Team-Assistentinnen sind nahezu durchgängig von Abwertung und Unkenntnis der Tätigkeiten geprägt. Bei der Eingruppierung der verschiedenen Tätigkeiten wurde keine Berufsgruppe so heruntergestuft wie die der Sekretärinnen. Der Siemens Dialog berichtete ausführlich über die Protestaktionen in Erlangen. Und auch beim Betriebsrätinnen-Treffen musste man standortübergreifend feststellen: Bei typischen Männerberufen und den männlichen Kollegen war Abgruppierung im Rahmen der ERA-Einführung eigentlich kein Thema. Als Beispiel: Kein einziger Chauffeur wurde abgruppiert – die Frauen, die im Büromanagement arbeiten, also Sekretärinnen, Bürokauffrauen, Teamassistentinnen, hingegen reihenweise. Das liegt daran, dass man typisch weiblichen Tätigkeiten auch generell eine niedrigere Wertigkeit zuweist. Schon bei der Bezeichnung Teamassistentin entbrennt die Diskussion: Während man damit eigentlich einen modernen Begriff für die Arbeiten im Sekretariat einführen wollte, reduziert schon die Bedeutung des Wortes jegliche Tätigkeit auf eine rein assistierende „Hilfsarbeit“. In Wirklichkeit gibt es aber zahlreiche Aufgaben, welche die Sekretärinnen im Bereich Büromanagement eigenständig erledigen. Der Begriff Manager scheint allerdings für die von Männern dominierten Tätigkeiten reserviert. Jedenfalls war die ERA-Eingruppierung für viele Betriebsrätinnen ein Paradebeispiel für die unterschiedliche Bewertung weiblicher und männlicher Tätigkeiten.

Gesucht: weiblich, kommunikativ, teamfähig

Es beginnt schon bei der Stellenausschreibung. Oft werden für Sekretariatsarbeiten neben den fachlichen Qualifikationen soft skills wie Kommunikationsfähigkeit, Organisationstalent oder Teamfähigkeit gefordert. Diese soft skills sind zwar fixer Bestandteil der Qualifikation – in der Bezahlung schlagen sie sich aber nicht nieder. Jetzt könnte man sagen: Auch von männlichen Kollegen erwarten Unternehmen heutzutage Teamfähigkeit oder soziale Kompetenz. Allerdings wird es bei Ingenieuren weniger oft wirklich als Teil der Qualifikation und damit des Jobs abgefragt. Und auch im gewerblichen Bereich gibt es solche Beispiele. Löterinnen und Wicklerinnen sollen „Fingerfertigkeit“ mitbringen, sonst werden sie gar nicht erst eingestellt. In der Arbeitsplatzbeschreibung und Bezahlung dieser überwiegend von Frauen ausgeübten Tätigkeit kommt diese „Extra-Qualifikation“ allerdings nicht mehr vor.

Überfällige Auseinandersetzung mit Entgeltstrukturen

Bleibt zu vermerken, dass es während der schwierigen Umstellungsphase auf ERA in den Betrieben neben den Gewinnern leider auch Verlierer/innen gibt, und das sind häufig Frauen. Für die Betriebsrätinnen selbst war es eine schwierige Zeit - mit unerfreulichen Diskussionen mit den Führungskräften, manchmal auch geprägt von Spannungen innerhalb des Betriebsrates. Doch Phasen wie die ERA-Einführung bringen auch Chancen. Zum einen wurde der „Wert von Arbeit“ thematisiert und diskutiert. Zwischen Betriebsrat und Beschäftigten entstand ein intensiverer Kontakt und es hat - auch seitens der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - eine längst überfällige Auseinandersetzung mit Entgeltstrukturen und Arbeitsbewertung stattgefunden. Nicht zuletzt wurde als positives Signal auch sichtbar, dass die Kollegen und Kolleginnen durchaus bereit sind, Solidarität zu zeigen, selbst wenn sie nicht unmittelbar selbst von Abgruppierungen betroffen waren.

Und für die Zukunft bedeutet die intensive Auseinandersetzung mit ERA für die Betriebsrate, dass man sich auch weiterhin und noch mehr „einmischen“ muss in Entgeltfragen und Arbeitsbewertung. Mehr als vorher werden die KollegInnen die benötigten Daten einfordern, die ihnen nicht immer so ohne weiteres zur Verfügung gestellt werden. Feste ERA-Ausschüsse müssen eingerichtet werden zur kontinuierlichen Kontrolle und gegebenenfalls als Korrektiv. Und damit verbunden sollen in Entgeltlesungen – wie teilweise schon praktiziert – die aktuellen Zahlen und Tätigkeitsbeschreibungen regelmäßig überall kontrolliert werden.

Personalplanung im Zeichen der Familie

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist zwar einer der Kernpunkte, wenn es darum geht, Frauen im Beruf die gleichen Chancen zu bieten wie Männern, allerdings einer, der im Hause Siemens schon abgehakt zu sein scheint. Denn, so Birgit Steinborn, die Betriebsratsvorsitzende der NL Hamburg: „Auf dem Papier ist alles da.“ Es gibt eine Betriebsvereinbarung zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, auch Prodi ist ein Programm, das Minderheiten und Frauen fördert. Das Problem liegt also nicht bei fehlenden Regelungen, sondern allenfalls in der mangelnden Umsetzung. Dabei fällt den Betriebsrätinnen übereinstimmend auf, dass die Siemens-Personalplanung in dieser Hinsicht eine entscheidende (Negativ-) Rolle spielt: Elternzeit ist kein Faktor für die Personalplanung. Ein Beispiel: Während ein Faktor wie „Krankenstand“ rechnerisch in die Kalkulation von Personalbedarf, Kostenplanung etc. miteinbezogen wird, ist dies für „Elternzeit“ nicht der Fall. Der Druck bei entstehenden Fehlzeiten durch Babypausen ist somit größer als bei MitarbeiterInnen, die wegen Krankheit über einen längeren Zeitraum zu Hause bleiben.

Personalverwaltung statt -planung

Doch damit nicht genug, die meisten Betriebsrat-Kolleginnen, die sich in ihrer Eigenschaft als Betriebsratsmitglieder regelmäßig mit dem Thema Personalplanung zwangsläufig auseinandersetzen, sind überzeugt: „Siemens macht gar keine Personalplanung, sondern eine reine Personalverwaltung.“ Das ist bitter, denn in der Realität wird damit eine Chance für Unternehmen und MitarbeiterInnen verpasst, wenn es nur darum geht, Stellenabbau im letzten Moment zu verhindern, anstatt vorausschauend, etwa durch zusätzliche oder weiterführende Qualifikationsmaßnahmen, solche Situationen zu vermeiden oder ihnen zumindest besser gewachsen zu sein. Und auch hier trifft es wieder einmal die Frauen. Betriebsrätinnen beobachten, dass die männlichen Kollegen Förderqualifizierungen, die einen Aufstieg und besser bezahlte Positionen ermöglichen, wesentlich häufiger genehmigt bekommen als die Mitarbeiterinnen. Diese werden auch geschult, aber im Normalfall in Basiswissen als Qualifizierung für ihre augenblickliche Tätigkeit, wie zum Beispiel Officeprogramme für Sekretärinnen. Gerade bei den angelernten Frauen in der Produktion könnte man hier im Blick auf einen zukünftigen Fachkräftemangel aktiv werden und sie rechtzeitig weitergehend qualifizieren.

Geschlechterstereotypen am Arbeitsplatz

Das Seminarthema „Geschlechterstereotypen am Beispiel von Entgeltstrukturen – und ihre Auswirkung auf die Arbeit der betrieblichen Interessenvertretung“ wurde auch in einem Vortrag von der Sozialwissenschaftlerin Dr. Andrea Jochmann-Döll behandelt.

Ein Stereotyp bietet im Allgemeinen eine griffige, aber meistens sehr vereinfachte Zusammenfassung von Eigenschaften oder Verhaltensweisen, die man einer Gruppe als typisch zuordnet. Und so gibt es auch Geschlechterstereotypen: Frauen ordnet man Wärme und Expressivität zu. Sie sind verständnisvoll, emotional, aber auch abhängig. Männer hingegen verkörpern Kompetenz und Instrumentaliät, sind unabhängig, dominant und zielstrebig. Und diese Eigenschaften traut man den Geschlechtern auch im Bezug auf Beruf und Arbeit zu. Dabei sind Stereotypen nicht unbedingt etwas Schlechtes. Sie helfen bei der schnellen Einordnung von Menschen und Sachverhalten, aber das Schubladisieren hat auch negative Auswirkungen: Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern werden durch die Stereotypisierung häufig überschätzt, auf der anderen Seite neigt man dazu, die Unterschiede, die innerhalb einer Gruppe existieren, zu unterschätzen. Im schlimmsten Fall führen solche Kollektiv-Vorurteile zu einem modernen Sexismus. Frauen werden nicht mehr diskriminiert, sondern sogar für ihre typisch weiblichen guten Eigenschaften gelobt. „Toll, wie multitaskingfähig Frauen sind,“ könnte das vermeintliche Lob lauten. Aber Vorsicht: Gelobt wird nicht die tüchtige Kollegin, sondern eigentlich ihr x-Chromosom.

Mit Transparenz gegen Schubladendenken

Selbsterfüllende Prophezeiungen, so Andrea Jochmann-Döll, sind eine weitere, meist negative Folge solcher Geschlechterstereotypen. Frauen ergreifen Berufe, in denen sie ihren Chefs zuarbeiten, weil man ihnen das am ehesten zutraut und bestätigen damit wiederum das Stereotyp. Gleichzeitig leben wir in einer Realität, die sich verändert hat und veralteten Stereotypen gar nicht mehr entspricht.

Doch wie wirken sich nun die Stereotypen auch bei den Entgelten aus? Zunächst einmal: Sie wirken sich aus. Denn wie eine Tätigkeit bewertet wird, hängt auch davon ab, mit welchen Eigenschaften man sie verbindet. Tätigkeiten werden generell positiver bewertet, wenn sie männlichen Stereotypen entsprechen und als weniger qualifiziert angesehen ,wenn sie weibliche Stereotypen bedienen. Deshalb kann ein Einfluss der Geschlechterstereotypen insbesondere bei der Arbeitsbewertung und Eingruppierung nicht ausgeschlossen werden. Zahlreiche Beispiele wie der Versuch, Sekretärinnen abzugruppieren, deuten darauf hin. Gerade deshalb müssten die eingesetzten Verfahren zur Bewertung von Tätigkeiten und die Anforderungsmerkmale transparent gestaltet sein und ihre Anwendung kontrolliert werden.

Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

Auch im Hinblick auf das neue Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) scheinen solche Überlegungen zu den Geschlechterstereotypen Sinn zu machen. Gabriele Ulbrich, bei der IG Metall für Frauen und Gleichstellungspolitik zuständig, die das Betriebsrätinnen-Seminar organisiert hatte, hielt auch ein Referat zum Antidiskriminierungsgesetz. Prinzipiell schützt das Gesetz nicht nur Frauen vor diskriminierender Behandlung. Denn niemand darf aufgrund seines Alters, Geschlechts, seiner sexuellen Identität, seiner Religion, Rasse oder aufgrund einer Behinderung benachteiligt werden. Deshalb müsse bei jeder Maßnahme kontrolliert werden, welche Auswirkung sich für die einzelnen im AGG erwähnten Gruppen ergeben. Egal ob Kündigung, Betriebsvereinbarung oder Umstrukturierung – es müssen die Regeln zur Gleichbehandlung angewandt werden. Wenn nicht, darf der Mitarbeiter auch die Leistung verweigern, wenn der Arbeitgeber nicht auf seine Beschwerde eingeht. Beschäftigte können innerhalb von 3 Monaten Schadensersatz geltend machen. Und auch die Beweislast hat sich zugunsten der ArbeitnehmerInnen verändert. Der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin muss nach der Gesetzesnovelle nur glaubhaft machen, dass gegen das Gesetz verstoßen wurden – im Anschluss trägt der Arbeitgeber dann die Beweislast. Der Arbeitgeber steht außerdem in der Pflicht, Schulungen für seine Führungskräfte zum neuen AGG durchzuführen. Damit hat er allerdings auch sein Soll erfüllt.

Entgeltstrukturen in Europa: Frauen in Deutschland ganz hinten

Der EU-Vergleich zeigt, dass Deutschland ein funktionierendes Gleichbehandlungsgesetz dringend braucht. Denn im Vergleich zu allen anderen EU-Ländern ist die Diskriminierung von Frauen bei der Bezahlung in Deutschland am deutlichsten. Die Gründe dafür sind in den über lange Jahre gewachsenen Strukturen zu suchen. Traditionell herrschte zumindest in West-Deutschland eine Arbeitsteilung in der Familie, die sich auch in der Gesetzgebung und Verwaltung widerspiegelte. Bis zur Familienreform in den 70er Jahren war der Mann der Haushaltsvorstand. In der Steuergesetzgebung gibt es das Ehegattensplitting, Frauen beschränken sich deshalb häufiger auf Minijobs. In der Sozialgesetzgebung ist die Frau oft diejenige mit abgeleiteten Ansprüchen (Beispiel: Krankenversicherung). Die Liste ließe sich fortsetzen. Und auch der Berufszugang im dualen Ausbildungssystem und im dreigliedrigen Schulsystem führt oft dazu, dass Frauen auch heute noch weniger verdienen. Denn: Frauen werden – häufiger als Männer – Mütter. Und die sind traditionell noch immer die Hauptverantwortlichen für die Kindererziehung, bleiben häufiger bei den Kindern als Männer und haben weniger Berufsjahre vorzuweisen. Wie festgefahren solche Strukturen zum Teil sind, machte auch die aktuelle Krippendiskussion deutlich. Sie sagt viel über eine Gesellschaft und seine Kultur in Bezug auf Arbeit und Familie aus. Doch auch hier scheint sich etwas zu ändern. Und auch, was die Entgeltstrukturen in Deutschland betrifft, lässt sich festhalten: Maßnahmen wie Quotierung, die andere Länder früher und konsequenter eingeführt haben, beginnen nun auch in Deutschland zu greifen. Die finanzielle Disqualifikation der Frauen im Berufsleben bessert sich langsam. Doch auch hier müssen die Betriebsrätinnen „am Ball bleiben“ und die Kontrolle nicht aufgeben, damit es nicht zur Stagnation kommt. Ob Gleichstellungsausschuss oder Personalplanung, die ERA-Eingruppierung oder der Kampf um eine positivere Bewertung typisch weiblicher Qualifikationen, es gibt noch viel zu tun.