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03.07.2024, 21:07 Uhr

"Lebenspraktikanten"

  • 16.04.2006
  • Jugend

Wie fühlt es sich an, das Leben als Praktikant? Wenn man Träume hat, etwas vom (Berufs-) Leben erwartet, täglich Bewerbungen schreibt, aber Absage um Absage erhält?

Nikola Richter erzählt in ihrem Buch „Die Lebenspraktikanten“ sieben Beispiele von jungen, akademisch ausgebildeten und flexiblen Menschen auf Jobsuche. Die Autorin beschreibt das Leben einiger Freundinnen und Freunde in prekären beruflichen Situationen - oft ohne Bezahlung und Sozialversicherung, dafür aber mit Überstunden und Aufgaben, die eigentlich einem Vollzeit-Arbeitsverhältnis entsprechen.

Die Figuren haben verschiedene Strategien entwickelt, wie sie mit ihrem prekären Alltag umgehen: Linn nimmt unzählige Veranstaltungen wahr, um Kontakte zu knüpfen und das vielbeschworene „Networking“ zu nutzen. Sie kann sich jedem beliebigen Stellenprofil anpassen und sich so darstellen, als sei sie genau die Richtige für den angebotenen Job. Da werden Gespräche genauestens vorbereitet, Informationen über Kontaktpartner gesammelt und sortiert. Trotzdem klemmt sie sich vor einem Vorstellungsgespräch vorsorglich Taschentücher unter die Achseln, schließlich will sie nicht den ersten Eindruck mit einer Bluse versauen, die dunkle Flecken aufweist. Ihr Ziel ist es, dem eventuell zukünftigen Chef im Gedächtnis zu bleiben - das Problem ist nur, dass der sich aufgrund der vielen und ständig wechselnden Praktikanten in seiner Firma nicht einmal an einzelne Gesichter erinnern kann.

Linns Freundin Anika verliert aufgrund von vielen Absagen das Vertrauen in sich selbst und ist vor lauter Aufregung und Unsicherheit kaum noch in der Lage, sich überzeugend bei potentiellen Arbeitgebern zu präsentieren. Das weiß sie und es führt bei ihr schon im Vorfeld zu Schlafstörungen und heftigen Magenproblemen. Die Strategie von Nils hat mit Praktika und Bewerbungsgesprächen wenig zu tun. Er probiert stattdessen unermüdlich neue Geschäftsideen und die Selbstständigkeit aus. Jasmin dagegen geht für ein Praktikum ins Ausland und ist dort der Einsamkeit ausgesetzt. Den Kontakt zu ihren Freunden in der Heimat verliert sie zusehends.

Sie alle sind im Grunde nichts, weder Arbeitslose, noch Berufseinsteiger und schon gar keine Studierenden mehr. Auch nach Abschluss des Studiums wohnen sie weiterhin in ihrer WG, verbringen ihre Tage damit, Geld für Miete und Lebensmittel zusammen zu bekommen und sind Weltmeister im Schreiben von Bewerbungen. Über ein Praktikum, durch das Erledigen noch so sinnloser Aufgaben, durch Überstunden und hohe Leistung hoffen sie darauf, irgendwann doch einen längerfristigen Vertrag angeboten zu bekommen.

Die prekär Beschäftigten möchten ein geregeltes Einkommen, Sozialversicherungen, den Aufbau einer Existenz an einem festen Ort; alles, was sie wollen, ist, dass ihnen für die nähere Zukunft ein bisschen Planungssicherheit zugestanden wird. So sieht er aus, der Alltag vieler junger Menschen in Deutschland - zwischen beruflicher und privater Orientierung, zwischen Beziehung, Freundschaften, Praktika und der Suche nach dem Traumjob. Obwohl viele Einblicke gegeben werden, bleiben dem Leser die Figuren menschlichen teilweise fremd und unpersönlich; ihre Lebenssituation hingegen kann von Kapitel zu Kapitel besser nachempfunden werden. Das Buch bietet einen guten Überblick für all diejenigen, die wissen möchten, wie es sich in einer prekären „Generation Praktikum“ so lebt. Wer Praktikant ist oder war, der wird Passagen finden, die ihm leider sehr bekannt vorkommen.

Politische Empfehlungen gibt das Buch nicht, zumindest nicht direkt. Aber auch ohne zwischen den Zeilen zu lesen, bleibt beim Zuklappen des Buches der Eindruck zurück, dass es so jedenfalls nicht weitergehen kann.

(Nikola Richter: Die Lebenspraktikanten Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN: 3596169925, 190 S., 8,00 €)